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Wir haben einen Vogel

Geschrieben am 12.08.2022

Wenn der Historiker der longue durée die Entwicklung der Menschheit über Jahrtausenden erläutert, so kann der Zuhörer sicherlich ein gewisses Bewusstsein erlangen. Genauso wenn die Astronomin die Evolution des Universums schildert, das Leben der Sterne und die Bewegungen der Galaxien, und auch wenn der Geowissenschaftler den Werdegang der Erde, ihre Geologie und ihre Biosphäre in Zusammenhang beschreibt. Die Zuhörerin gewinnt Wissen über das, was ist, und wie es so wurde, und kann ihre eigene Existenz im Ganzen etwas informierter einordnen. Klar sind alle Erkenntnisse, über die der Mensch verfügt, jeweils vorläufig, nicht nur unvollständig, sondern auch teilweise falsch. Aber mit den Jahrzehnten und den Jahrhunderten werden sie besser, das Bild wird schärfer, der Umriss deutlicher, die Farben natürlicher, der Inhalt reichhaltiger.

Es sind aber lediglich wenige Momente, in denen ein Bewusstsein auftritt. Es passiert nur wenigen Menschen und zu nur wenigen Anlässen. Die meisten Menschen leben zumeist in einem völlig unbewussten Modus, sie verfolgen kurzsichtige Vorstellungen, die sie ohne Hinterfragen hinnehmen, nur weil sie spontan diese mit ihren Mitmenschen zu teilen glauben. Warum regen sich die Pferde einer Herde plötzlich auf und fangen alle an, in eine bestimmte Richtung zu rennen? Jedes rennt deshalb in diese Richtung, weil alle anderen in diese Richtung rennen. Genauso machen die Menschen auch.

Sind wir bewusste Wesen? Nein. Eher: Wir haben einen Vogel. Wir verfolgen fast immer kritiklos unseren eigenen Wahnvorstellungen. Eine Prise Bewusstsein funkelt aber in vereinzelten, wertvollen Augenblicken.